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Annette Holl

Mitten in der Corona-Pandemie erhielt ich, 43, verheiratet und Mutter von drei Kindern (12,10,4), Lehrerin und Autorin, meine Brustkrebs-Diagnose. Von einem Tag auf den anderen stand meine Welt still und drehte sich gleichzeitig in einem rasenden Tempo. Außer der jährlichen Krebsvorsorgeuntersuchung hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt keinen Gedanken an den Krebs verschwendet. Aber dann wurde aus genau so einem Routinetermin bei meinem Frauenarzt ein Krebsbefund. Nicht tastbar, aber im Ultraschall erkennbar, erspähte er eine vermeintliche Zyste in meiner rechten Brust und empfahl mir, das in der Klinik abklären zu lassen. Da die Auffälligkeit auch bei der Mammographie noch zu erkennen war, gab es eine Biopsie. Eine Woche später erhielt ich dann die Nachricht, dass ich „einen kleinen HER2-positiven-Brustkrebs“ hatte.

Mein Leben war von einem Tag auf den anderen ein komplett anderes geworden und nahm rasant Fahrt auf. Gefühlsmäßig befand ich mich auf einer Achterbahn. Von tiefer Traurigkeit über große Wut bis hin zu starker Unruhe und gleichzeitiger Schockstarre gepaart mit Hektik und Stress war alles dabei. Statt zur Arbeit ging ich von Untersuchung zu Untersuchung. Zwei Wochen später schon die Operation. Kurz danach bekam ich meinen Port und startete im Advent mit der ersten von 16 Chemotherapiesitzungen. Danach schlossen sich 28 Bestrahlungen an. Antikörperinfusionen sowie eine Anti-Hormontherapie ergänzen meine Akuttherapie in den nächsten Monaten und Jahren.

Meine Krebsreise fand zwischen Homeschooling, Homeoffice und Corona-Einschränkungen statt. Das war nicht immer einfach, aber irgendwoher hatte ich plötzlich viel Humor und Sarkasmus, mit dem der Schlamassel sich recht gut wuppen ließ. So trug ich meinen „Gedanklich am Meer“-Pulli, wenn es zur Chemo ging, fand die Glatze herrlich praktisch, wenn die Wechseljahr-Nebenwirkungen mir eine Hitzewallung bescherten oder kringelte mich, als meine Jüngste damit anfing, ebenfalls mit Mütze im Haus herumzulaufen.

Mamas Krankheit gehörte von Anfang an mit dazu und ich ließ meine drei Goldschätze den Krebs „sehen, anfassen und von ihm hören“. Sie durften über die Operationsnarben, den Port oder meine Glatze streichen und mir bei der Auswahl der Beanies helfen. Ich berichtete von meinen Untersuchungen und machte Fotos von allem (Klinikzimmer, Chemoambulanz, Bestrahlungsgerät usw.), da sie ja coronabedingt live nie dort sein duften. Sie hakten auf unserem selbstgebastelten Chemo- und später dann Bestrahlungs-Kalender jeden Termin feierlich ab. Ich besorgte verschiedene Kinderbücher und Broschüren zum Thema „Krebs“ und suchte nach Anlaufstellen wie einem Onlineforum für die Große oder dem Podcast „Pink Kids“ für Kinder krebskranker Eltern. Außerdem legte ich Wert darauf, dass der Krebs hier nicht das alles beherrschende Thema war und versuchte so viel Normalität wie möglich zu ermöglichen: Ab und zu kam ein Besucherkind, Weihnachten und Geburtstage wurden im etwas kleineren Stil gefeiert und per Videobotschaften und Facetime-Anrufe hielten wir den Kontakt zu Großeltern und Co. Alles in allem war der Krebs bald kein großes Thema mehr, sondern gehörte zu unserem Alltag mit dazu. 

Ich suchte mir verschiedene Kraftquellen. So war mir meine tägliche Bewegungseinheit heilig. Egal, ob ich kraftlos oder enttäuscht, medikamentengesteuert war oder ein cortisongeschwollenes Gesicht hatte – ich fuhr Mountainbike, joggte, betrieb „Keller-Sport“ auf meinem Hometrainer oder ging, als der Corona-Gott es endlich wieder zuließ, schwimmen. Spaziergänge an der frischen Luft waren auch an der Tagesordnung. In Bewegung konnte ich den Krebs eine Weile vergessen und meinen Körper als gesund wahrnehmen .
Echte Auszeiten waren coronabedingt schwer möglich, aber ich sorgte für kleine persönliche Inseln im Alltag. Das waren dann ganz banale Dinge wie ein Fernsehabend mit meiner Lieblingsserie, ein gutes Buch zu lesen oder einen Podcast zu hören und dabei eine leckere Tafel Schokolade essen oder mich mit meinem Mann zum neuen Tatort auf dem Sofa verabreden. Nicht zuletzt tat es mir gut, mich in meine Arbeit als Autorin stürzen zu können und mich dadurch vom Krebs abzulenken und in eine ganz andere Welt zu vertiefen.

Nach ein paar Monaten begann ich, meine Krebsreise auf einem Blog öffentlich zu machen. Das war zunächst purer Selbstnutz. Denn infolge der Chemo wurde nicht nur der Körper schwächer, auch die Psyche schwächelte. Ich verlor meinen positiven Blick und bekam Zukunftsängste. Beim Schreiben über meine Krankheit konnte ich meine Gedanken und Sorgen aus meinen übervollen Kopf bekommen und wurde wieder lebensfroher. An den Reaktionen anderer Betroffener erkannte ich, dass ich durch meinen Blog anderen Mut machen konnte. Ich wurde ein immer lauteres krebsiges Wesen, gab ein Interview für die Zeitung, schrieb einen Artikel im Brustkrebsmagazin „mamma mia!“ usw.

Meine Lebenseinstellung hat sich durch meine Diagnose geändert. So warte ich nicht mehr auf das große, besondere Erlebnis, sondern beachte die kleinen Dinge im Alltag. Den Milchschaum auf meinem Kaffee, die Regenpause an einem nassen Tag, ein Essen, das nach tagelanger Appetitlosigkeit schmeckt, ein Nachmittag ohne Streit zwischen meinen Kindern, die liebe Textnachricht einer Freundin oder der Brief eines Schülers. Auch schätze ich die Begegnungen und den Austausch mit anderen Menschen mehr. Und war Gesundheit für mich bisher immer etwas Selbstverständliches, sehe ich sie jetzt als Geschenk. Nicht zuletzt höre ich mehr auf meinen Bauch und bin ehrlicher, direkter und offener im Umgang mit meinen Bedürfnissen und Wünschen – und auch mit anderen Menschen.

Außerdem nehme ich bewusster wahr, dass ich doch eigentlich unfassbares Glück habe: Ich habe einen wundervollen Mann, drei tolle Kinder, ein wunderschönes Haus, lebe inmitten herrlicher Natur und darf zwei Berufe ausüben, die mir große Freude bereiten. Für mich ist klar: Krebs darf kein Tabu sein, kein Thema, über das hinter vorgehaltener Hand und mit gesenktem Haupt und betretenem Blick gesprochen wird. Es kann jede/n jederzeit treffen.

Liebe Betroffene: Auch wenn man als Krebslerin oder Krebsler keine Haare mehr, Operationsnarben oder sonstige Auffälligkeiten hat, gibt es meiner Meinung nach keinen Grund, sich zu verstecken, Sprecht über eure Krankheit und lasst euer Umfeld daran teilhaben. Versucht, nicht den Mut zu verlieren, auch wenn bei einer Krebserkrankung der Tod immer im Beiboot sitzt. Nutzt die Lebenszeit, die euch bleibt, für Dinge, die euch gut tun. Habt kein schlechtes Gewissen, wenn ihr eurer Familie eure Traurigkeit oder Wut zumutet. Vertraut darauf, dass ihr getragen werdet von ihrer Liebe. Macht und sagt, was ihr wollt und was euch gut tut. Das Leben ist zu kurz für „Vielleicht“, „Hätte“, „Soll ich?“ und vor allem für „Warum habe ich nicht?“.

Blog: https://www.influcancer.com/blogs/blog-autoren/eulenspiegel/